An dem Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer
und seinem Werk scheiden sich die Geister. Nicht erst seit dem Ende der DDR.
Vorher galt er im Westen als stiller Dissident, dessen vieldeutige Symbolbilder
sich immer haarscharf an der Grenze des von der Partei- und Staatsführung noch
eben Tolerierten bewegten. Nachher als einer der Hof- und Staatskünstler, die,
wie Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke, Westdevisen erwirtschaften
halfen und dafür Privilegien genossen. Das hatte auch mit dem Versuch zu tun,
die im zweiten deutschen Staat der Nachkriegszeit erbrachten kulturellen
Leistungen aus dem Gedächtnis zu löschen, und vor allem damit, sich nach der
„Wiedervereinigung” unliebsame Konkurrenz auf dem Kunstmarkt und im
Kulturbetrieb vom Leib zu halten.
Zupass kam denen, die Mattheuers Werk in den 1990er Jahren nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass der Künstler sich in einem Leserbrief an die „rechtskonservative” Wochenzeitung „Junge Freiheit”, die vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz beobachtet wurde, für deren Gedanken- und Publikationsfreiheit eingesetzt hatte. Wie ja auch versucht worden ist, das Wandbild zur deutschen Geschichte von Bernhard Heisig im Berliner Reichstagsgebäude mit der Ausgrabung des Eintritts des Neunzehnjährigen in die Waffen-SS zu verhindern, da die SED-Mitgliedschaft als Argument nicht reichte
Für viele schien sich so noch
nachträglich die beliebte These aus den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges zu
bewahrheiten, dass die gegenständliche und figürliche Kunst der DDR und ihre
Protagonisten Anklänge und Affinitäten zu den kulturellen Vorstellungen der
rechten Antimodernisten und zur Nazizeit aufweisen würden. Schließlich war doch
auch Willi Sitte Schüler des NS-Malers Werner Peiner gewesen. Die Absage seiner
lange geplanten Ausstellung im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum 2001
wurde allerdings mit angeblich neuen Vorwürfen wegen Sittes Tätigkeit als
Vorsitzender des Verbandes bildender Künstler der DDR begründet.
In diesem Jahr (2002) ist Wolfgang
Mattheuer 75 Jahre alt geworden. Für einen Künstler seines Ranges normalerweise
Anlass für eine große Retrospektive in einem der führenden Museen des Landes.
Doch außer einer Ausstellung der Kunstsammlungen Chemnitz mit 130 Gemälden,
Zeichnungen und Plastiken aus fünf Jahrzehnten, die dann noch nach München an
die Akademie der Schönen Künste wanderte, gab es nur Fernsehsendungen als
größere öffentliche Würdigungen. Die „Zeit” illustrierte einige Wochen
lang ihre Seiten mit farbigen Abdrucken von Mattheuer-Gemälden, und die
Kunstzeitschrift „art” brachte in ihrem Juliheft ein reich bebildertes
Porträt des Künstlers, in dessen redaktionellem Vorspann es hieß: „Wolfgang
Mattheuer, der streitbare Realist aus Sachsen, hat in Ost und West für
Kontroversen gesorgt. Als einziger Maler wurde er von beiden deutschen Staaten
hoch dekoriert.” In der Tat erhielt er 1984 den Nationalpreis der DDR und
neun Jahre später das Bundesverdienstkreuz.
Leben, Werk,
Wirkung
Wolfgang Mattheuer wird 1927 im vogtländischen Reichenbach, einem kleinen Industriestädtchen des Mittelgebirges, als Sohn eines Buchbinders geboren. Nach Kriegsverwundung und Flucht aus sowjetischer Gefangenschaft besucht er die Kunstgewerbeschule in Leipzig. Während der Lehrzeit als Lithograf entstehen erste Aquarelle und Druckgrafiken. An der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert er 1947-51 Buch- und Schriftgrafik. Zum Maler und Grafiker entwickelt er sich als Autodidakt. 1956-74 Lehrtätigkeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. In den 60er Jahren halten sich das grafische und das malerische Werk etwa die Waage. Anfang der 70erJahre entdeckt Mattheuer für sich auch die Plastik als Ausdrucksmittel. Bis heute (2002) besteht er mit handwerklichem Stolz darauf, ein „Bildermacher” zu sein, will nicht „im Topf der Maler verrührt werden”.
Seit 1958 nimmt Mattheuer an allen zentralen Kunstausstellungen der DDR in Dresden teil. 1977 ist er zusammen mit Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke auf der 6. documenta in Kassel mit Bildern vertreten. 1981 ist er an der Ausstellung „Meisterwerke deutscher Kunst” in Tokio beteiligt; 1982-84 an der Ausstellung „Zeitvergleich – Malerei und Grafik aus der DDR”, die in mehreren Städten der Bundesrepublik gezeigt wird; 1984 als Vertreter seines Landes an der 41. Biennale in Venedig; 1986-87 an der Ausstellung „Menschenbilder – Kunst aus der DDR” in Bonn, Münster und Saarbrücken. Nach 1989 wagt kein westdeutsches Museum eine repräsentative Einzelausstellung zum Werk des Künstlers.
Auftragskunst war nie Mattheuers Sache.
Es gibt keine Wandbilder von ihm, und seine Plastiken standen zu DDR-Zeiten
nicht auf öffentlichen Plätzen. Sein Bildbeitrag für den Palast der Republik,
„Spaziergang am Abend”, zeigt ihn und seine Frau, die Malerin Ursula
Mattheuer-Neustädt, auf einer Anhöhe mit Blick über Leipzig. Das steinerne
Häusermeer und die Luftbelastung durch rauchende Schlote werden nicht geschönt.
Mattheuers Credo: „Der Bildermacher kann
sich nicht heraushalten aus dem Streit seiner Zeit. Er muß den Mut haben, sich
einzumischen, auch wenn er dabei Narben und Wunden davonträgt.” Gern
erzählte er die Anekdote, wie er Kurt Hager durch eine Ausstellung seiner
Bilder und Plastiken führte, gespannt auf kritische oder ärgerliche Reaktionen
des Oberzensors. Als die ausblieben, habe er sich gefragt, ob er alles falsch
mache. Nach 30jähriger Mitgliedschaft trat Mattheuer im Oktober 1988 aus der
SED aus.
Der Kunsthistoriker Eckhart Gillen schreibt im Katalog der von ihm kuratierten Berliner Ausstellung „Deutschlandbilder – Bilder aus einem geteilten Land” (1997), in der die DDR-Kunst bezeichnenderweise nur am Rande vorkam, Mattheuer habe „gesellschaftliche Konflikte im ‘real existierenden Sozialismus’ auf die metaphorische Ebene biblischer und mythologischer Gleichnisse verschoben, um so das kritische Potential, das im Publikum seiner Ausstellungen vorhanden war – wenn auch in Parabeln verschlüsselt –, zu artikulieren und dadurch von realen Protestaktionen abzulenken. Heute mag man diese Bilder als seismographische Aufzeichnungen der Beben deuten, die die geräuschlose Implosion des Systems 1989 anzeigten.” (Gillen 1997, S. 196)
Zum Vorwurf der Sklavensprache, der
Mattheuer wie seinen Künstlerkolleginnen und -kollegen im Westen gemacht wurde
und wird, sagt Eduard Beaucamp, der als beinahe einsamer Rufer seit Jahrzehnten
im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen” jede Gelegenheit nutzte, die
„Leipziger Schule” und andere Ostkünstler gegen Zumutungen von allen
Seiten zu verteidigen: „Mattheuer ist Erzähler, Moralist und Philosoph des
Alltäglichen … Aus keinem anderen Werk erschließen sich Landschaft, Leben und
Mentalität der DDR besser… Mattheuer war eine bildnerische Instanz, ein
öffentliches Gewissen in der DDR … Mattheuer schuf realistische,
mythologische und literarisch verkleidete Sinnbilder … Von plattem Realismus
keine Spur. Dennoch bleibt Mattheuer modemer Realist, weil er die Praktiken,
die Montagen, Surrealismen, Phantasmen und Romantizismen auf die Wirklichkeit
anwendet und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihrer Hilfe befragt, auseinandernimmt und kritisch neu konstruiert.”
(Mattheuer 1999, S. 6f.)
Die Bandbreite der positiven Rezeption von Mattheuers Werk im Feuilleton der letzten Monate – vom „Neuen Deutschland” bis zur „Jungen Freiheit” – war überraschend. Bemerkenswert ist vor allem ein kurzer Artikel in der „Frankfurter Rundschau” von Peter Iden, der die DDR-Kunst nicht mag, mit Ausnahme Mattheuers, sich aber bei einer von der KunstGesellschaft Frankfurt a. M. im Herbst 2001 veranstalteten Diskussion mit Eduard Beaucamp dafür aussprach, sie dem westdeutschen Publikum endlich zu zeigen, damit es sich ein eigenes Urteil bilden könne. Iden wiederholte die Legende, Mattheuers berühmtes Bild „Hinter den sieben Bergen” von 1973, eine schmerzlich ironische Paraphrase des Delacroix-Gemäldes „Die Freiheit führt das Volk” (1830), habe seinerzeit die Freiheit hinter der Westgrenze gemeint und sei in der DDR auch so verstanden worden. Anfang der 1990er Jahre hat Mattheuer das Motiv noch einmal aufgegriffen. Das neue Bild heißt, der neuen Grenzenlosigkeit entsprechend: „Hinter den 7×7 Bergen”. Auf die Frage nach dem Sinn dieser Reprise hat er, als das Bild 1997 in der Galerie Schwind in Frankfurt a. M. gezeigt wurde, kurz und trocken geantwortet: „Auch die westliche Freiheit ist eine Fata Morgana”.
Mattheuer beharrt auf der Aktualität
seiner Bilderfindungen. Zum „Mann mit Maske”, einem von ihm vielfach
variierten Motiv, das im Westen immer auf die Verhältnisse unter der Diktatur
bezogen wurde, meinte er nach der „Wende”: „Das Maskentragen in der DDR
war einförmig, jetzt ist es pluralistisch”.
Im „Neuen Deutschland” schreibt
Peter H. Feist in seinem Geburtstagsgruß über Mattheuers Kunst: „Die
hochgradige Verunsicherung, wie die Mitteilungen des Autors zu verstehen seien,
machten sie in der DDR auffällig und wirksam, weil in der Regel Sachverhalte
eindeutig beurteilt wurden und weil das so eindringliche Erscheinungsbild der
Werke erkennen ließ, dass es Mattheuer um eine ‘Botschaft der Bilder’, um einen
Appell ans Umdenken ging. Beides ist heute, da wir mit gefährlichen
Einteilungen der Welt in Gut und Böse konfrontiert werden … nicht weniger
wichtig”. Mattheuer verhehle „weder seine Abscheu gegenüber dem
Kapitalismus, die ihn einst zum Sozialisten werden ließ, noch seine
Enttäuschung über westdeutsche Siegermentalität nach der von ihm ersehnten
Vereinigung” („Fliegender Nachbar”, 6.4.2002).
In der „Jungen Freiheit” bringt Doris Neujahr den Künstler wegen seines Bildtitels „Verlust der Mitte” assoziativ mit dem gleichnamigen Buch Hans Sedlmayrs in Verbindung, das in den 1950er Jahren alle konservativen bis reaktionären Ressentiments gegen die „moderne Kunst” versammelte. Sedlmayr habe „den künstlerischen Abstraktionismus als Fortsetzung einer mit der Französischen Revolution eingeleiteten Dehumanisierung attackiert”. Gleichsam in der geistigen oder besser praktischen Nachfolge von Sedlmayr habe Mattheuer „den konfektionellen Zuschnitt, die monumentale Leere und die illusionäre Freiheit in der westlichen Kunstproduktion und den deutschen Nationalmasochismus kritisiert”. „Sein Grundthema wurde der Abschied von der Utopie – sein eigener Abschied.” („Mit Würde behauptet”, 12. 4. 2002)
Der Künstler empfand diesen Artikel wie auch den im „Neuen Deutschland” als die besten Würdigungen seiner Person und seines Werkes. Wie geht das zusammen? Um es verstehen zu können, muss etwas ausgeholt werden.
Mattheuer und die
Neue Rechte
Mattheuer lobte im Gespräch die „Junge Freiheit” nicht nur für ihr Feuilleton, das beispielsweise zum 100. Geburtstag von Leni Riefenstahl eine mehrseitige Jubelbeilage brachte, sondern auch für ihre politischen Positionen. Auch er ist gegen eine multikulturelle Gesellschaft und zuviel Einwanderung. Die Erlaubnis, eines seiner Gemälde für den Umschlag von Alain de Benoists Buch „Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus – die andere Moderne”, das 2002 im Verlag der „Jungen Freiheit” erschien, zu benutzen, habe er mit Freude gegeben. Den Inhalt des Buches teile er vorbehaltslos.
Nun ist Alain de Benoist so etwas wie der
Chefideologe der französischen Neuen Rechten (Nouvelle Droite), die, vermittelt
durch die „Junge Freiheit”, auch auf die rechte intellektuelle Szene in
Deutschland ausstrahlt. Ihr Markenzeichen ist eine Globalisierungskritik, die
sich auf den ersten Blick kaum von dem unterscheidet, was im Umfeld linker
globalisierungskritischer Strömungen und Organisationen gedacht und gesagt
wird.
Die Neue Rechte knüpft bewusst an
Begriffe an, die auch in der Linken verwendet werden, um sie im
nationalistischen bzw. „ethnopluralistischen” Sinn umzudeuten. In dem von
Alain de Benoist verfassten Manifest der Nouvelle Droite, „Aufstand der
Kulturen”, das ebenfalls im Verlag der „Jungen Freiheit” erschien,
ist beispielsweise vom „westlichen Imperialismus” die Rede, gegen den „die
Völker” kämpfen sollen. Für die Einwanderung von Menschen aus anderen
Kulturen wird die „Logik des Kapitals” verantwortlich gemacht, die „den
Menschen auf den Zustand einer Ware” reduziere, „deren Standort man
verlegen” kann. Weltweit dominiere eine „Neue Klasse”, die überall
den „gleichen Menschentypus” erzeuge: „Kalte Sachkundigkeit, von der
Wirklichkeit losgelöste Rationalität, abstrakter Individualismus,
ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen …” Ein Kernsatz
lautet: „Gegen die Allmacht des Geldes, der obersten Macht in der modernen
Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht
möglichst durchzusetzen.”
Die alte Unterscheidung zwischen „schaffendem” und „raffendem Kapital” klingt von Feme in folgender Formulierung an: „Der Industriekapitalismus wurde allmählich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine Höchstrentabilität auf Kosten des tatsächlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt”. Wenn der Widerspruch nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen „Geld” und „Volk” bzw. den „Interessen der Völker” gesucht und gefunden wird, kann es, muss es aber nicht weiter gehen bis zu einer Ethnisierung des „schlechten” Kapitals – als „angelsächsisches” oder, bei den Rechtsextremen, „jüdisches” Finanzkapital. Alain de Benoist wie auch die ,Junge Freiheit” gehen nicht so weit. Sie begnügen sich mit der Ablenkungs- und Sündenbockfunktion, die der Begriff des internationalen „Finanzkapitalismus” bereits bietet.
Auch die ökologische Frage wird in dem
Manifest angesprochen und unter Anspielung auf Erich Fromm gefordert:
„Gleichermaßen muß der Vorrang des Seins vor dem Haben bekräftigt werden. Eine
umfassende Ökologie muss aber auch zur Überwindung des modernen
Anthropozentrismus und zum Bewußtsein einer Mitzugehörigkeit von Mensch und
Kosmos aufrufen … Sie verwischt nicht die spezifische Besonderheit des
Menschen, sondern spricht ihm die ausschließliche Stellung ab, die ihm das
Christentum und der klassische Humanismus verliehen haben.”
Eine dezentrale Gebrauchswertproduktion
für die Bedürfnisse der Menschen wird als Ziel angestrebt: „Für eine Wirtschaft
im Dienst des Lebendigen”, „Für lokale Gemeinschaften” heißen die
entsprechenden Schlagworte. Wie konkrete Schritte dahin aussehen sollten, wie
die Tauschwertproduktion und das Kapitalverwertungsprinzip gezähmt oder gar
abgeschafft werden könnten, wird nicht gesagt.
So läuft trotz des Einsatzes von viel „kapitalismuskritischem” Vokabular doch wieder alles auf die Botschaft von der Verteidigung der nationalen und kulturellen Identität gegen den christlichen, aufklärerischen oder sozialistischen „Universalismus” hinaus. „Für starke Identitäten”, „Für das Recht auf Verschiedenheit”, „Gegen die Immigration” sind die charakteristischen Forderungen dazu in den Kapitelüberschriften des Manifestes. Der Mensch wird im Stil von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt als „territoriales Tier” bezeichnet; seine „Entwurzelung” sei „eine soziale Pathologie unserer Zeit” (zit. nach de Benoist 1999).
Gegen eine einseitig rationalistische
Aufklärung, ihr mechanistisches Menschenbild und ihre technokratischen Folgen
wird nicht auf die „Dialektik der Aufklärung”, auf Selbstreflexion und
Selbstaufklärung einer „zweiten Moderne” gesetzt, sondern die Rückkehr zu
vormodemen Mythen beschworen.
Man kann verstehen, wie einer, der vom
„realen Sozialismus” der DDR enttäuscht wurde, der von der Linken in der
Bundesrepublik nichts mehr wissen, aber gleichwohl auf seiner Kritik an den
herrschenden Verhältnissen beharren will, für solche Positionen gewisse
Sympathien entwickelt. Bereits in seiner Erklärung zum Austritt aus der SED
beklagte Mattheuer 1988 in der DDR neben „Mangel und Verfall, Korruption und
Zynismus” einen „bedenkenlosen, ausbeuterischen Industrialismus”.
Damit war sicherlich der – auch unter den Zwängen der Systemkonkurrenz –
betriebene Raubbau an den natürlichen Ressourcen gemeint. In der
Begriffsbildung schwingt aber eine romantische Modernisierungskritik mit, wie
sie von der Konservativen Revolution der 1920erJahre bis zur heutigen Neuen Rechten
geübt wird.
Gegen den „ausbeuterischen Industrialismus” steht bei Mattheuer die Liebe zur heimatlichen Landschaft und zum Alltag der kleinen Leute. Sie führt in seinen Bildern nicht zur kleinbürgerlichen Idylle, weil er den (begrenzten) Horizont und das, was hinter ihm sein könnte, immer mit ins Bild nimmt. Die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held schreibt dazu: „Das kleinbürgerliche Leben und das kleine Glück stellt Mattheuer, anders als die sozialkritischen Realisten in Deutschland (Dix, Grosz oder Grützke unter den gegenwärtigen Malern) ohne jeden Zynismus dar, weder mit der mitleidigen noch ironischen Überlegenheit des Intellektuellen, obwohl er die Bornierungen dieses Lebens doch auch in den Blick nimmt. Er entziffert stattdessen im Falschen das Wahre, wie Adorno sagt, die berechtigten und großen Sehnsüchte und Utopien, die in den kleinen Erfüllungen und Derivaten des Glücks nicht aufgehen.” (Städtische Kunstsammlungen Chemnitz 1997, S.16 f.)
Von keinem Künstler ist Mattheuer mehr angezogen gewesen als von Caspar David Friedrich. Schon in seiner Kindheit, denn ein Landschaftsbild des Malers hing im Wohnzimmer seiner Eltern. Dessen deutsch-protestantische Landschaften scheinen, modernisiert und abgewandelt, in manchen Bildern Mattheuers wiederzukehren. 1974 fand im Dresdener Albertinum eine Ausstellung von Bildern Caspar David Friedrichs statt, die seinem 200. Geburtstag gewidmet war. Parallel dazu gab es zum Vergleich eine Mattheuer-Ausstellung. Der westdeutsche Kunstjournalist Peter Sager schrieb dazu: „Man kam von einem Andachtsraum in ein Diskussionszentrum. Selten sah ich vor zeitgenössischer Kunst so viel Publikum so engagiert debattieren” (Westermanns Monatshefte 1975, zit. nach Schönemann 1988, S. 309).
Wie auch immer sich die politischen
Auffassungen Mattheuers entwickelt haben – daraus kurzerhand Rückschlüsse auf
die Qualität, die Gültigkeit und Geltung seines Werkes zu ziehen, ist nicht
möglich. Jene, die hier Schwierigkeiten haben, könnte man daran erinnern, dass
beispielsweise Marx und Engels Honoré de Balzac dafür gelobt haben, in seinen
Romanen die kunstvollste und präziseste Darstellung der bourgeoisen
Gesellschaft in Frankreich geliefert zu haben, obwohl oder weil seine
Sympathien, politisch gesehen, der Adelsklasse gehörten, die zum Untergang
verurteilt war.
Der
„Jahrhundertschritt”
Seit den 1970er Jahren gab es in Literatur
und Kunst der DDR eine Tendenz, antike Mythen und biblische Legenden
aufzugreifen, sie in einen aktuellen Kontext zu stellen und neu zu
interpretieren oder abzuwandeln. Das wurde bei uns meist als
Verschlüsselungstechnik gesehen, da die Schriftsteller und Künstler in der DDR
die sozialen und politischen Verhältnisse nicht grundlegend kritisieren
konnten, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Dieses Verständnis greift aber
zu kurz.
Der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann hat
in seinem Essay „Das mythische Element in der Literatur” 1975 begründet,
welchen Sinn es macht, sich mit mythischen Geschichten und Bildern zu
beschäftigen. Daraus nur einige kurze Belegstellen: „Der Mythos gibt den
Widerspruch wieder …; in einem Zug also, den wir wohl als wesentlich
anerkennen müssen, stimmt der Mythos mit dem Leben überein.” (Fühmann
1993, S. 412) „Der Mythos kennt kein Happy-End und kein Wunschdenken”
(ebd., S. 441). „Das Mythische ist Gleichnis für die Verschränkung dessen, was
sowohl draußen wie drinnen ist, von historisch-sozialen wie von psychischen
Realitäten.” (Ebd., 443) „Vieltausendfache und in eben dieser
Vieltausendfachheit ins Typische überführbare Einzelerfahrungen mit sich
selber, der Gesellschaft und der Natur bilden einen nie ausschöpfbaren Fundus
von Gleichnismöglichkeiten heraus.” (Ebd., S. 442f.)
Als wesentliche Elemente des Mythischen
bezeichnet Fühmann unter anderem den „erklärende(n), aber nicht Wissenschaft
ersetzende(n) noch Wissenschaft beabsichtigende(n) Charakter; als
historischer(n) Aspekt die Tatsache, dass ein hervorragender und als besonderes
repräsentativ empfundener Teil dieser Entfaltungen aus den Vorbereitungs- und
Entstehungszeiten der Klassengesellschaft herrührt” (ebd., S. 446).
In Mattheuers Werk spielt die Auseinandersetzung mit mythischen Figuren eine große Rolle. Kain und Abel, Prometheus, Sisyphos und Ikarus werden symbolisch in die Gegenwart versetzt, surreal in zeitgenössische Landschaften montiert und in immer neuen motivischen Variationen in Grafiken, Gemälden und Plastiken gezeigt. Die so entstehenden Sinn- und Denkbilder bedürfen der Auslegung durch den Betrachter – die nie eindeutig und endgültig sein kann.
Peter Richter hat in seiner Besprechung
der Chemnitzer Ausstellung in der „Frankfurter Allgemeinen” (3.8.2002) das
Verfahren Mattheuers so bezeichnet: Er denke „die Mythologien des Alltags zu
visuellen Metaphem” zusammen. Dabei benutzt er nicht nur bereits bekannte
mythische Bilder, um sie zu aktualisieren, sondern erfindet neue.
Mit dem ,Jahrhundertschritt”, seiner
größten Plastik, die mittlerweile in Berlin, Leipzig und Halle, in Bonn und
Oberhausen auf öffentlichen Plätzen steht, ist Mattheuer eine visuelle Metapher
für eine ganze Epoche gelungen. Sie ist seit ihrem ersten Auftritt höchst
umstritten. 1985 wurde sie – als Gipsfassung für einen Bronzeguss – erstmals
auf der Leipziger Bezirksausstellung gezeigt.
Als ich die Bronzeplastik auf der zehnten
und letzten allgemeinen Kunstausstellung der DDR 1987 in Dresden sah, empfand
ich sie als eine Provokation für das offizielle Geschichtsbild der SED, das
immer zwischen Rechts und Links säuberlich zu trennen versucht hatte. Hier
vereinte eine Plastik in ein und derselben Figur die erhobene Faust des
Proletariats und den Faschistengruß, den zackigen Tritt des Militärstiefels und
den Schritt nach vorn mit bloßem Fuß, und das auch noch diagonal angeordnet, so
dass nicht einmal von einer eindeutig „linken” und „rechten” Hälfte
gesprochen werden konnte.
Sollte doch noch einmal die große Alternative dargestellt werden: Die Figur gleichsam als Gesellschafts- oder Menschheitskörper, der so oder so in die Zukunft voranschreiten kann? Handelte es sich, ganz im Gegenteil, um eine geschichtspessimistische Sicht, wie sie in der Endphase der DDR auch in den Theaterstücken Heiner Müllers zum Ausdruck kam: Geschichte als Resultat blutiger Irrtümer (Müller: „Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel”)? Oder war das eine mehr oder weniger deutliche Anspielung, eine subtile Symbolisierung der von der Linken immer bekämpften Totalitarismusthese: Stalinismus gleich „Nationalsozialismus”, oder ganz allgemein: Rot gleich Braun? Aber wieso konnte sie dann in der DDR öffentlich gezeigt werden?
Waren die Kunstjuroren und -zensoren der
SED schon so durch Gorbatschows Perestroika-Kurs und den wachsenden Widerwillen
in der DDR-Bevölkerung geschwächt, dass sie die ideologische Gefahr nicht
erkannten oder nichts mehr gegen sie unternehmen konnten?
Einer von ihnen, der Kunstwissenschaftler
Karl Max Kober, schrieb über Mattheuers „Jahrhundertschritt”: „Die Plastik
rafft extremste Widersprüche zusammen und setzt den Betrachter, der ihren Sinn
ergründen will, der schweren Pflicht aus, diese nachzuvollziehen. Der
ursprüngliche Schock verwandelt sich in Betroffenheit, erregt die Gefühle und provoziert
den Verstand. Mehr kann man von einem Kunstwerk nicht verlangen. Wer an ihm
Schönheit vermißt, fragt falsch, da in diesem Fall der Wahrheit Vorrang
gebührt.” (Mitteldeutsche Neueste Nachrichten, 15./16.6.1985, zit. nach
Schönemann 1988, S. 324)
Welcher Wahrheit? Heinz Schönemann, der
1988 die große Monographie zu Mattheuers Werk verfasste, beschrieb und
interpretierte ein Jahr vorher in einem Ausstellungskatalog die bemalte
Gipsfassung des „Jahrhundertschritts” so, dass es zur herrschenden Linie
noch passen konnte: „Ein scheinbar kopfloses Wesen vereinigt den
weitausgreifenden Schritt eines Beines von makellosem Weiß und die drohende
Sprungkraft des dunklen Unholds; bringt den erhobenen rechten Arm mit der
faschistischen Grußgeste, dessen Hand sich zum schwarzen Hilfeschrei lockert,
und die zur Faust geballte Linke zusammen. Schwarz-weiß-rot gegen menschliche
Farben und Hoffnungsgrün, vitales Weiß gegen vergehendes Schwarz; Unschuld
gegen Schuld, Widerstand gegen Unterdrückung; die raumgreifende ausgewogene
Gestalt, der spannungsvolle Bezug von Farben und Proportionen bringen das
Wunder zustande – eine Quadratur des Kreises: aber nicht den unversehrten
Menschen, sondern die Menschheit selbst in ihrer Zerrissenheit, die dennoch
unteilbar ist.” (Staatliche Galerie Moritzburg 1987, S. 13)
Hermann Raum, in der DDR einer der
einflussreichsten Kunstwissenschaftler, schreibt im Rückblick in seinem vor
zwei Jahren erschienenen Buch „Bildende Kunst in der DDR – Die andere
Moderne” über Mattheuers Plastik, sie zeige „die disparate, in ihren
Teilen auseinanderstrebende Welt, aggressiv und gefährdet, voranschreitend,
aber wohin?” (Raum 2000, S. 202) Der „Jahrhundertschritt” sei „in
seiner merkwürdigen Zwitterrolle zwischen der einem Ausrufezeichen gleichenden
politisch-moralischen Diktion und variablen Bedeutungen ein typisches Werk der
späten DDR” (ebd., S. 253). Wie variabel die Bedeutung interpretiert
werden kann, dafür gab Mattheuer selbst ein Beispiel. Hatte er zu DDR-Zeiten
nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass in dem weit vorgestreckten Bein der
Plastik die am Jahrhundertende energisch in die Zukunft vorstoßende Dritte Welt
zu sehen sei, so gab eine Agenturmeldung 1990 nun als seine Lesart an: „Das
Bein … versinnbildlicht für ihn den Schritt in ein Jahrhundert, das frei von
Extremismus, Faschismus und Leninschem Kommunismus sein soll.” (Zit. nach
ebd., S. 252)
Da Mattheuers Werk auf den Dialog mit dem Betrachter angelegt ist, und er dem Betrachter zugesteht, sich seine eigene Meinung darüber zu bilden, hat er selbstverständlich auch das Recht, sich mit einer Interpretation seiner Plastik am Dialog zu beteiligen. Hermann Raum kommentiert sie so: „Diese hoffnungsvolle Neuinterpretation kollidiert allerdings mit dem hilflosen Ausdruck des kleinen Kopfes der Figur, der im Begriffe steht, sich in den aufgebrochenen, formlosen Rumpf zurückzuziehen wie in ein Panzerwrack.” (Ebd., S. 253)
Kann man das auch so verstehen, dass der
Mensch – oder die Gesellschaft insgesamt – als bis zum Zerreißen
widersprüchliches Ganzes kaum den Kopf herausstrecken und oben behalten kann
zwischen den widerstreitenden Kräften? Ist es ein Hinweis darauf, dass sich ein
stärkeres Bewusstsein über den Gang der Dinge auf der Welt herausbilden müsste,
damit er einmal demokratisch zu steuern wäre, frei nach Marx, der gesagt hat,
dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dass sie aber bisher kein
Bewusstsein davon haben. Oder nach Kant: Aufklärung als „Ausgang des Menschen
aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.”
Ebenso muss die ganze Figur nicht bedeuten, wie Mattheuer es 1990 festlegen wollte, dass die Extreme – buchstäblich die Extremitäten links und rechts – sich gleichen, und dass es um eine Welt „frei von Extremismus” gehe. Schon garnicht im Sinne eines neuen ,juste milieu”, das seine Privilegien mit den Menschheitsinteressen gleichsetzt und alles als extremistisch oder terroristisch bekämpft, was seinen Lebensstandard und seine Saturiertheit gefährdet.
Was der Künstler selbst über sein Werk
sagt, ist ja nichts weiter als eine Auslegung unter anderen möglichen. Die
beliebte Frage, was denn der Künstler mit seinem Bild oder seiner Plastik
gemeint habe, beruht auf dem Missverständnis, bei Kunstwerken handele es sich
um Bilderrätsel, die am kompetentesten diejenigen auflösen könnten, die sie
gestellt haben. Käme es aber nur auf die Meinung des Künstlers an, hätte er es
sich sparen können, ein Bild oder eine Plastik zu machen. Er hätte einfach ein
Interview geben oder einen Essay schreiben können. Der hier mögliche Einwand,
die bildliche Fassung seiner Meinung wirke aber stärker, und deshalb habe sich
der Künstler soviel Mühe gemacht, sie herzustellen, würdigt Kunst zur
Illustration von Thesen herab. Leider ist das auch immer eine Gefahr bei der
kunstwissenschaftlichen oder kunstpädagogischen Interpretation. Das Sprechen
und Schreiben über Kunst sollte ein bewusstes Nachvollziehen der Wahrnehmung
von Kunst sein, um die es in Wirklichkeit geht.
Im Fall des „Jahrhundertschritts” verhält es sich nach Hermann Raum so, dass er „als Übungsgegenstand für professionelle Kunsterklärer gegensätzlicher ideologischer Herkunft” dient (Raum 2000, S. 252). Nach dem Ende der DDR konnte er in das in Westdeutschland vorherrschende Geschichtsbild integriert werden, wie etwa bei Eckhart Gillen, der die Plastik so deutet: Sie erinnere „auf doppelte Weise an die Last unserer Geschichte: den Alptraum des NS und die Illusion einer revolutionären Verheißung” (Feist/Gillen 1996, S. 41)
Jutta Held schrieb 1997, zum 70sten Geburtstag Wolfgang Mattheuers, gegen die vorschnelle Vereinnahmung an: „Ein Werk, das die großen politischen Gegensätze unseres Jahrhunderts in ihrer Dialektik zusammenzufassen sucht, ist der Jahrhundertschritt, mit dem Mattheuer politisch Bilanz zieht. Wie der große Historiker Hobsbawm, der von dem kurzen 20. Jahrhundert spricht, das von 1917-1989 reicht, versteht Mattheuer die Moderne als ‘Zeitalter der Extreme’, das im wesentlichen durch den Kampf zwischen Faschismus und Sozialismus geprägt ist. Fragen dieser europäischen, aber vor allem deutschen Geschichte, die in jüngster Zeit von der historischen Forschung gestellt werden, scheinen mir in dieser Skulptur gebündelt zu sein: Wie definiert und behauptet sich Menschlichkeit in diesem Konfliktfeld, wie ist der beherrschende politische Gegensatz des Jahrhunderts in der Subjektivität der Menschen fundiert? Mattheuers Antwort scheint zu sein, daß die politische Konfrontation, deren Träger die Individuen doch auch sind, sie zugleich zerreißt, ihnen die Mitte nimmt und sie auslöscht. Kopflos, ohne Ausponderierung in einem körperlichen Zentrum, greifen die Glieder dieser Figur automatisch und maßlos aus, nach vorn und zurück, so daß jede sinnvolle Bewegung blockiert wird.” (Städtische Kunstsammlungen Chemnitz 1997, S. 17 f.)
Diese Interpretation lässt sich auch auf
die zeichnerischen und malerischen Fassungen des „Jahrhundertschritts”
beziehen, die vor und nach der Realisierung als Plastik entstanden: „Verlorene
Mitte” (1981), „Verlust der Mitte” (1981/82) „Aggression”
(1981), „Alptraum” (1982).
Das Gemälde „Aggression” illustriert den Schutzumschlag des „Totalitarismus”-Buches von Alain de Benoist. Das Vorwort zu diesem Buch schrieb Ernst Nolte, der nicht nur als einer der wichtigsten Vertreter der Totalitarismustheorie in der Bundesrepublik gilt, sondern in den 1980er Jahren den Anstoß zur sogenannten Historikerdebatte gab: Mit seiner These, das „logische Prius” zu Auschwitz sei der bolschewistische Terror gewesen, es gebe einen „kausalen Nexus” zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, und letzterer sei als eine Reaktion auf die Oktoberrevolution im „Weltbürgerkrieg” des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Jürgen Habermas, Richard von Weizsäcker und andere haben seinerzeit den Sinn dieser These als projektive Schuldabwehr und indirekte Verharmlosung des deutschen Faschismus bezeichnet.
Mit der Verwendung zur Illustration der
Totalitarismus-These ist Mattheuers „Jahrhundertschritt”-Motiv nicht zu
seiner Wahrheit gekommen. Es bleibt mehrdeutig und auslegbar. Das ist ja das
Kennzeichen großer Kunst: nicht eindimensional und fixiert zu sein.
Wie seine anderen Motive und Bilderfindungen auch hat Mattheuer den „Jahrhundertschritt” mehrfach abgewandelt, um ihm im jeweiligen Kontext neue Bedeutungen zu geben. Eine Linolschnitt-Fassung aus dem Jahr 1987 verbindet ihn mit der Mauer, die Deutschland in zwei Staaten teilt. Hier bekommt die Figur ein Doppelgesicht: Auf ihrer rechten Seite das schemenhafte des Faschismus und Militarismus, auf der linken das ernste bis grimmige des mit geballter Faust Voranschreitenden.
Fazit aus den verwirrend unterschiedlichen Interpretationen: Es geht beim „Jahrhundertschritt” offenbar nicht um die einfache Entgegenstellung von Schwarz und Weiß, von Gut und Böse. Gerade die diagonale Verschränkung der symbolischen Codes für Links und Rechts, Rückschritt und Fortschritt, Faschismus, Militarismus und Sozialismus, und deren Verkoppelung über ein und dieselbe Gestalt zeigen das. Aber es handelt sich auch nicht um eine Gleichsetzung unter dem Stichwort Totalitarismus. Sie wäre schon deshalb – logisch und praktisch – nicht möglich, weil die Plastik sonst in der DDR nicht hätte entstehen und öffentlich ausgestellt werden können. Der ,Jahrhundertschritt” in seinen verschiedenen Fassungen lädt vielmehr zum Nachdenken über allzu simple Gleichungen ein. Er lässt offen, wie es weitergeht, weil das auch vom Betrachter selbst abhängt.
Das letzte große politische Bild
Mattheuers hat den Titel: „Nichts Neues im neuen Jahrhundert”. Die Farben
sind dunkel. Anstelle der Extreme des 20. Jahrhunderts sieht Mattheuer einen
„Totalitarismus der Mitte” heraufziehen. Die Dummheit sei unbesiegbar.
Gegen den Pessimismus und die Resignation des Künstlers sollten wir mit Heiner
Müller daran festhalten: „Vielleicht gibt es irgendwann eine humane
Gesellschaft – eine Gesellschaft also, in der man keine Kunst braucht.”
Literatur:
Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen.
Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin 1999
Ders.: Totalitarismus. Kommunismus und
Nationalsozialismus – die andere Moderne. 1917-1989, Berlin 2001
Günter Feist/Eckhart Gillen/Beatrice
Vierneisel (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte.
Materialien, Berlin/Köln 1996
Franz Fühmann: Marsyas. Mythos und Traum,
Leipzig 1993
Eckhart Gillen (Hg.): Deutschlandbilder.
Kunst aus einem geteilten Land. Ausstellungskatalog Berlin 1997, Köln 1997
Wolfgang Mattheuer: Zwischen Idyll und
Katastrophe. Bilder von 1958 bis 1999, Frankfurt a. M. 1999 (Edition Galerie
Schwind, nicht im Buchhandel erhältlich)
Hermann Raum: Bildende Kunst in der DDR.
Die andere Moderne. Werke – Tendenzen – Bleibendes. Edition Ost AG. Berlin 2000
Heinz Schönemann: Wolfgang Mattheuer. Leipzig/Frankfurt a. M. 1988 Städtische Kunstsammlungen Chemnitz: Wolfgang Mattheuer zum 70. Geburtstag.
Aus: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 52, Dezember 2002 (korrigierte Fassung)